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Presseinformation: Automatisierte Kfz-Kennzeichenkontrollen nur in engen Grenzen verfassungsmäßig

BVerfG stärkt Grundrechtsschutz und stellt Rechtssicherheit her

Das Bundesverfassungsgericht hat am 5.Februar 2019 mitgeteilt, dass das Bayerische Polizeiaufgabengesetz insoweit verfassungswidrig ist, als es ohne weitere Einschränkung der Polizei erlaubt, das Kennzeichen aller vorbeifahrenden Kraftfahrzeuge verdeckt von einem Kennzeichenlesesystem automatisiert zu erfassen, kurzzeitig gemeinsam mit Angaben zu Ort, Datum, Uhrzeit und Fahrtrichtung zu speichern und mit Kennzeichen aus dem Fahndungsbestand abzugleichen. Expertinnen und Experten des Forschungsverbunds „Forum Privatheit“ haben das Urteil analysiert und nehmen Stellung zu den Auswirkungen.


Obwohl das BVerfG bereits 2008 festgestellt hatte, dass das Überwachungsinstrument des Kfz-Kennzeichen-Scanning nur zum Schutz wichtiger Rechtsgüter und bei einem konkreten Anlass an beschränkten Orten und begrenzten Zeiten eingesetzt werden darf, haben die Bundesländer Bayern, Baden-Württemberg und Hessen diese Kontrollen ohne diese Einschränkungen in den Katalog der normalen polizeilichen Handlungsinstrumente aufgenommen und davon ausführlich Gebrauch gemacht.

Dagegen klagte ein Bürger mit Wohnsitz in Bayern und in Österreich, der befürchtete, auf den Reisen zwischen den beiden Wohnsitzen immer wieder überwacht zu werden und aufgrund der hohen Falscherkennungsrate der Kennzeichenlesesysteme als zur Fahndung Ausgeschriebener erfasst zu werden und Nachteile zu erleiden. Das Verwaltungsgericht München, der Verwaltungsgerichtshof Bayern und das Bundesverwaltungsgericht hatten die Klage abgewiesen, u.a. weil die bloße Erfassung des Kennzeichens keinen Grundrechteingriff darstelle. Das BVerfG hat diese Urteile in seinem Beschluss vom 18. Dezember 2018 aufgehoben und die entsprechede Regelung im Bayerischen Polizeiaufgabengesetz für teilweise verfassungswidrig erklärt.

Bundesverfassungsgericht stärkt Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung  

„Der Beschluss des BVerfG stellt mit großer Klarheit fest, dass der Einsatz des Überwachungsinstruments der automatisierten Kennzeichenkontrollen auf bestimmte Anlässe und zur Abwehr einer konkreten Gefahr für Rechtsgüter von erheblichem Gewicht beschränkt ist und stärkt damit das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und Datenschutz nachdrücklich“, konstatiert Prof. Dr. Alexander Roßnagel, Sprecher des Forschungsverbunds „Forum Privatheit“ und Professor für Umwelt- und Technikrecht an der Universität Kassel. „Die breite Überwachung des Straßenverkehrs durch automatisierte Kennzeichenkontrollen ist unzulässig“.

Das Gericht stellt eindeutig fest, dass bereits die Erfassung der Kennzeichen in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung eingreift, unabhängig davon, ob ein Treffer festgestellt werden kann. Das sah das BVerfG in seiner Entscheidung zum Kfz-Kennzeichen-Scanning vom 8. März 2008 noch anders. Damals entschied es, dass die bloße Erfassung und unmittelbare Löschung der Daten, sobald festgestellt worden ist, dass im Abgleich mit einer Fahndungsdatei kein Treffer vorliegt, keinen Grundrechtseingriff darstellt. Diese Feststellung haben sich viele Regelungen im Recht der Polizei und der Nachrichtendienste zunutze gemacht. Jetzt rückte das BVerfG von dieser Feststellung ab und sieht bereits in der Erhebung von Daten einen unerlaubten Grundrechtseingriff. Erfasst ein Überwachungssystem Menschen, so ist es nicht erst hinsichtlich der damit verbundenen Folgen, sondern bereits durch die Erfassung freiheitsbeeinträchtigend. „Zur Freiheitlichkeit des Gemeinwesens gehört es, dass sich die Bürgerinnen und Bürger grundsätzlich fortbewegen können, ohne dabei beliebig staatlich registriert zu werden, hinsichtlich ihrer Rechtschaffenheit Rechenschaft ablegen zu müssen und dem Gefühl eines ständigen Überwachtwerdens ausgesetzt zu sein“ – so das BVerfG.

Zulässig sind solche Kontrollen nur unter zwei Voraussetzungen. Zum einen muss dafür ein objektiv bestimmter und begrenzter Anlass bestehen. „Die Durchführung von Kontrollen zu beliebiger Zeit und an beliebigem Ort ins Blaue hinein ist mit dem Rechtsstaatsprinzip grundsätzlich unvereinbar“, so das BVerfG. Zum anderen müssen sie dem Schutz von wichtigen Rechtsgütern oder  öffentlichen Interessen dienen. Hierzu zählen z.B. Leib, Leben und Freiheit der Person und der Bestand und die Sicherheit des Bundes und der Länder. Da das Bayerische Polizeiaufgabengesetz beide Voraussetzungen nicht beachtet, hat das BVerfG die zu weitgehenden Regelungen für verfassungswidrig erklärt.

Auswirkung auch auf die Überwachung von Diesel-Fahrverboten  

Diese Bewertung gilt nicht nur für das Bayerische Polizeiaufgabengesetz, sondern auch für vergleichbare Regelungen in Baden-Württemberg und Hessen. Die Feststellung, dass ein Grundrechtseingriff bereits durch die bloße Erfassung von Überwachungsdaten besteht, hat Auswirkungen für viele polizeiliche und nachrichtendienstliche Überwachungsmethoden, weil diese bisher davon ausgingen, dass ein Grundrechtseingriff erst mit der Speicherung als Treffer beginnt. Diese Erkenntnis zwingt ebenfalls zur Anpassung vieler Erlaubnisse zur Überwachung. „Damit stellt Deutschland – im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern – den Datenschutz über den noch unklaren Nutzen einer sehr umfassenden Kennzeichenerkennung”, lobt Forum-Privatheit-Experte Dr. Michael Friedewald vom Fraunhofer ISI.

So hat das Urteil des BVerfG auch Auswirkungen auf die Absicht, Fahrverbote für ältere Diesel-Fahrzeuge durch automatisierte Kennzeichenerfassung und Abgleich mit dem Bundeskraftfahrzeugregister durchzusetzen. „Solche automatisierten Kennzeichenkontrollen finden zwar nur an der Einfahrt zu Umweltzonen oder für Dieselfahrzeuge gesperrte Straßen statt, dienen aber nicht der Abwehr einer Gefahr für Rechtsgüter wie Leib, Leben und Freiheit der Person und den Bestand und die Sicherheit des Bundes und der Länder, sondern der Verhinderung oder Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten – sind also in keiner Weise verhältnismäßig“ – resümiert Roßnagel.   

Im vom BMBF geförderten Forum Privatheit setzen sich Expertinnen und Experten aus sieben wissenschaft­lichen Institutionen interdisziplinär, kritisch und unabhängig mit Fragestellungen zum Schutz der Privatheit auseinander. Das Projekt wird vom Fraunhofer ISI koordiniert. Weitere Partner sind das Fraunhofer SIT, die Universität Duisburg-Essen, das Wissenschaftliche Zentrum für Informationstechnik-Gestaltung (ITeG) der Universität Kassel, die Eberhard Karls Universität Tübingen, die Ludwig-Maximilians-Universität München sowie das Unabhängige Landes­zentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein. Das BMBF fördert das Forum Privatheit, um den öffentlichen Diskurs zu den Themen Privatheit und Datenschutz anzuregen.


Sprecher „Forum Privatheit“: 
Prof. Dr. Alexander Roßnagel
Universität Kassel
Projektgruppe verfassungsverträgliche Technikgestaltung (provet) am Wissenschaftlichen Zentrum für Informationstechnik-Gestaltung (ITeG)
Tel: 0561/804-3130 oder 2874
E-Mail: a.rossnagel@uni-kassel.de

Projektkoordination „Forum Privatheit“:
Dr. Michael Friedewald
Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI
Competence Center Neue Technologien
Tel.: 0721 6809-146
E-Mail: Michael.Friedewald@isi.fraunhofer.de 

Presse und Kommunikation „Forum Privatheit“:
Barbara Ferrarese, M.A.
Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI
Tel.: 0721 6809-678
E-Mail: presse@forum-privatheit.de

https://www.forum-privatheit.de/forum-privatheit-de/index.php
Twitter: @ForumPrivatheit

Staatstrojaner-Gesetz durch die Hintertür bedroht Grundrechte

Forum Privatheit kritisiert Gesetzgebungsverfahren ohne demokratische Willensbildung

PRESSEINFORMATION 22.06.2017

Diese Regelung haben die CDU- und die SPD-Bundestagsfraktion von einem Formulierungsvorschlag der Bundesregierung übernommen. Sie haben diesen Formulierungsvorschlag aber nicht als eigenständigen Gesetzentwurf in das ordentliche Gesetzgebungsverfahren eingebracht, sondern in einem ganz anderen Gesetz über das Fahrverbot als Nebenstrafe versteckt, mit dem er nichts zu tun hat, und ihn kurz vor Verabschiedung dieses Gesetzes in die abschließenden Beratungen des Rechtsausschusses eingebracht. Dadurch wurde nicht nur der Bundesrat umgangen, sondern auch eine ausführliche Erörterung dieses Gesetzgebungsvorschlags in der Öffentlichkeit verhindert.

Die gesetzliche Infiltration von Smartphones und Computern und die Überwachung der Telekommunikation an der Quelle greifen sehr tief in die Grundrechte auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme und des Telekommunikationsgeheimnisses ein. Diese Maßnahmen werden seit dem Urteil zur Online-Durchsuchung des Bundesverfassungsgerichts von 2008 sehr kontrovers diskutiert. Das Gericht hat diese Maßnahme nur im Ausnahmefall zugelassen und von vielen Voraussetzungen abhängig gemacht. Durch das ungewöhnliche Gesetzgebungsverfahren, das die Koalitionsfraktionen gewählt haben, konnte weder in der Öffentlichkeit noch in Fachkreisen geprüft werden, ob die vorgesehenen Regelungen

  • sicherstellen, dass nach der Infiltration der Geräte tatsächlich nur die aktuelle Kommunikation erfasst werden kann,
  • verhindern können, dass nach der Infiltration eine Online-Durchsuchung des Geräts ermöglicht wird und Daten ausgelesen und kopiert sowie Dateien manipuliert werden können,
  • ausschließen, dass Webcams und Mikrofone am Endgerät heimlich aktiviert werden,
  • die massiven Grundrechtseingriffe rechtfertigen können. Das Bundesverfassungsgericht hat Staatstrojaner nur erlaubt, „wenn tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut bestehen“. Die heimliche Infiltration darf dagegen nach der neuen Regelung bei einem sehr umfangreichen Katalog von Straftaten zu deren Aufklärung erfolgen, zu denen auch Fälle lediglich mittlerer Kriminalität etwa nach dem Asyl- und Aufenthaltsrecht gehören.
  • den vom Bundesverfassungsgericht als unabdingbar erklärten Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung gewährleistet können,
  • verhindern, dass die Sicherheitslücken in Smartphones und Computersystemen, die Strafverfolgungsbehörden für ihre heimliche Infiltration nutzen, auch von Wirtschaftskriminellen und Drittstaaten, aber auch von Trittbrettfahrern ausgenutzt werden – etwa um kritische Infrastrukturen anzugreifen.

Das Forum Privatheit hält es angesichts der tiefgreifenden Auswirkungen für unverantwortlich und inakzeptabel, wenn Volksvertreter eine solche Regelung in einem Verfahren beschließen, das eine gründliche Prüfung und Erörterung durch die Öffentlichkeit und durch Fachkreise gezielt ausschließt. Ein solches Verfahren ignoriert wissenschaftliche Expertise und demokratische Willensbildung.

Das Forum Privatheit sorgt sich darum, dass das gesellschaftlich wichtige Gut der Privatheit vielfach eingeschränkt wird, ohne dass dem eine ausreichende Erörterung in Öffentlichkeit und Wissenschaft zugrunde liegt.

Im vom BMBF geförderten Forum Privatheit setzen sich Experten aus sieben wissenschaftlichen Institutionen interdisziplinär mit Fragestellungen zum Schutz der Privatheit auseinander. Das Projekt wird vom Fraunhofer ISI koordiniert, Partner sind das Fraunhofer SIT, die Universität Duisburg-Essen, das Wissenschaftliche Zentrum für Informationstechnik-Gestaltung (ITeG) der Universität Kassel, die Eberhard Karls Universität Tübingen, die Ludwig-Maximilians-Universität München sowie das Unabhängige Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein.

Sprecher des Forums Privatheit:
Prof. Dr. Alexander Roßnagel
Universität Kassel
Projektgruppe verfassungsverträgliche Technikgestaltung (provet)
Forschungszentrum für interdisziplinäre Technik-Gestaltung (ITeG)
Tel: 0561/804-6544 oder 2874
E-Mail: a.rossnagel@uni-kassel.de

Projektkoordination Forum Privatheit:
Dr. Michael Friedewald
Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI
Competence Center Neue Technologien
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E-Mail: Michael.Friedewald@isi.fraunhofer.de

Presse und Kommunikation Forum Privatheit:
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