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Schüren Vertrauensprobleme die Angst vor Massenüberwachung in Europa?

David Barnard-Wills argumentiert, dass EU-Bürger für ihre  Sicherheit nicht unbedingt mehr von ihrer Privatsphäre aufgeben wollen – und dass Politiker dies bei Entscheidungen über Überwachungspraktiken Ernst nehmen sollten.

Angeheizt durch Edward Snowdens Enthüllung von immer mehr Details der Überwachungspraktiken von NSA und GCHQ, hat es in den vergangenen Monaten eine intensive Berichterstattung der Medien über Motive und Grenzen der staatlichen Überwachung gegeben und wie die Bürger über das Verhältnis von Sicherheit und Privatheit denken. Dies hat auf nationaler wie auch europäischer Ebene erhebliche politischer Aufmerksamkeit erregt. Bürgerrechtsgruppen haben Protestaktionen gegen Massenüberwachung organisiert, zuletzt am 11.2. unter dem Motto „The day we fight back“ (Der Tag, an dem wir zurückschlagen).

Es ist daher sowohl für Sozialwissenschaftler und Politiker besonders wichtig und drängend, die Reaktionen der Bürger auf die zunehmende Überwachung genauer zu verstehen. Welche Faktoren sind besonders kritisch und führen zu öffentlichen Protesten und unter welchen Umständen ist die Öffentlichkeit bereit, bestimmte Überwachungs-und Sicherheitsmaßnahmen zu akzeptieren?

Das von der Europäischen Union finanzierte Projekt PRISMS (Privacy and Security Mirrors) versucht, genau dies zu untersuchen. Es versucht, das Verhältnis zwischen Privatsphäre und Sicherheit zu analysieren und eine evidenzbasierte Perspektive für die Vereinbarkeit von Privatsphäre, Sicherheit und Vertrauen zu entwickeln. Es wird untersucht, wie sogenannte Sicherheitstechnologien Bürger zunehmend überwachen und dabei in vielen Fällen die Privatsphäre und andere Grundrechte verletzen.

Eines der wichtigsten Ziele des Projektes ist es, die sehr vereinfachte Annahme zu überwinden, wonach die Bürger Privatheit und Sicherheit als Nullsummenspiel betrachten und es akzeptieren, für ein Mehr an Sicherheit in zunehmendem Masse ihre Privatheit und informationelle Selbstbestimmung aufgeben zu müssen. Als Ergebnis soll das Projekt solche Faktoren ermitteln, die die Einstellungen der Bürger zu Privatheit und Sicherheit beeinflussen und in die Bewertung spezifischer Sicherheitstechnologie einfliessen. Die Berücksichtigung solcher Faktoren in Politik, Verwaltung und Unternehmen kann zu besseren Entscheidungen über Überwachungspraktiken beitragen.

Das Projekt lässt seit Mitte Februar vom  Meinungsforschungsinstitut  Ipsos Mori eine Befragung von 27.000 europäischen Bürgern durchführen, um ein genaues Bild über deren Einstellung zu Privatsphäre und Sicherheit zu erstellen, also zu einer Zeit, da diesen Themen eine erhöhte öffentliche Aufmerksamkeit erhalten. Erste Ergebnisse der Befragung werden im April 2014 verfügbar sein, aber bereits zur Vorbereitung der Umfrage wurden Fokus-Gruppen mit Bürgern in Deutschland, Belgien, Portugal, Dänemark, Estland, Ungarn, Rumänien und Großbritannien durchgeführt.

In den Fokusgruppen hatten viele der Teilnehmer das Gefühl, dass ihre Privatsphäre schwer zu schützen ist, wenn sie an der modernen Gesellschaft teilhaben wollten. Dennoch war ihnen zumindest prinzipiell  der Schutz ihrer Privatsphäre und ihrer persönlichen Daten sehr wichtig.

In den meisten Ländern waren die Teilnehmer der Ansicht, dass sie selbst die Hauptverantwortung für den Schutz ihrer Privatsphäre hätten. Allerdings erwarten Sie auch von den Regierungen ihrer Länder ersthafte Bemühungen, die richtigen Rahmenbedingungen zum Schutz ihrer Rechte zu entwickeln. Schließlich wünschen sie sich auch eine wirksame Durchsetzung dieser Rechte durch staatliche Stellen wie die Polizei und Aufsichtsbehörden. Organisationen, die personenbezogene Daten erheben, sollten dafür verantwortlich sein, dass diese sicher und rechtskonform gespeichert und verarbeitet werden.

Die Teilnehmer der Fokusgruppen wünschten sich in der Regel robuste Anwendungsfälle für Überwachungstechnologien, die auch umfänglich die Interessen der Betroffenen berücksichtigen. Insbesondere wollten die Personen würdevoll und individuell behandelt werden, ohne von Vorherein unter Generalverdacht zu stehen. Bei der Einführung von Technologien, von denen ihre Rechte unmittelbar berührt werden, wünschen sie sich eine frühzeitige und ernsthafte Information über die Funktionsweise und Implikationen der fraglichen Technologie und eine ernsthafte Konsultation der Bürger.

Der konkrete Kontext war allen beteiligten Bürgern sehr wichtig, zum Beispiel war die Akzeptanz von Sicherheits- und Überwachungstechnik auf Flughäfen höher als bei Anwendungen in anderen Lebensbereichen, wie z.B. von intelligenten Stromzählern. Die Vorteile solcher Smart Meter für die Verbraucher waren vielen Bürgern wenig einleuchtend.

Bei der Internetnutzung nehmen Bürger mittlerweile vielfach an, dass ihr Verhalten von staatlichen Stellen breit überwacht werden, um Terrorismus und organisierter Kriminalität vorzubeugen und halten dies (mit der Ausnahme der Deutschen) auch für legitim.

Bürger haben bei Überwachungspraktiken von Unternehmen noch größere Bedenken als bei (rechtmäßiger) staatlicher Überwachung. Sie hatten dabei vor allem Sorgen über die Folgen solcher Praktiken auf ihre körperliche und finanzielle Sicherheit. Die Bürger äußerten das Gefühl, dass sie mit der Wahrung ihrer Rechte sowie moralischen und kulturellen Werte gegenüber Unternehmen in vielen Fällen überfordert sind und hier vor allem der Staat in der Pflicht sei, die notwendige Balance zwischen den Interessen herzustellen.

Diese Befunde haben Konsequenzen für die Governance der Überwachung in Europa. Datenschutz und Privatsphäre sind immer noch wichtige gesellschaftliche Werte und sollten geschützt werden, auch wenn die Teilnehmer sagen, dass es in Einzelfällen, wie zum Beispiel Flugreisen, eingeschränkt werden könnte. Momentan seien die überzogenen staatlichen Sicherheitsansprüchen (Sicherheit als „Supergrundrecht“) nicht in Übereinstimmung mit den individuellen Bedürfnisse nach Sicherheit und Privatheit.

Die PRISMS Forscher der Freien Universität in Brüssel (VUB) haben vorgeschlagen, dass die Art und Weise, wie die Angst vor der Kriminalität häufig in Umfragen gemessen wird, von der Annahme ausgeht, dass sich Menschen normalerweise ein Maximum an Sicherheit wünschen. Empirische Ergebnisse legen aber mittlerweile nahe, dass dies nicht der Fall ist: Wenn Menschen Angst vor der Kriminalität zum Ausdruck bringen oder sich Sorgen über bestimmte Sicherheitsvorfälle machen, bedeutet dies nicht weder, dass sie zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen unterstützen, noch dass die Menschen das Gefühl haben, deswegen ihre Grundrechte und Freiheiten aufgeben zu müssen.

Vielmehr scheint es darauf anzukommen, in welchem Maße die Bürger den öffentlichen und privaten Sicherheitskräften vertrauen. Der momentane Widerstand gegen Massenüberwachung durch die Geheimdienste legt jedenfalls nahe, dass es bei einem Teil der europäischen Öffentlichkeit zu einem erheblichen Vertrauensverlust gegenüber staatlichen Institutionen gekommen ist. Die in Kürze vorliegenden Ergebnisse der Umfrage sollte eine genauere Beantwortung dieser Frage ermöglichen und entsprechende Vorschläge für die Politik untermauern.

Alle PRISMS Forschungsberichte sind auf der Projekt-Webseite (http://prismsproject.eu) verfügbar.